Umweltpanorama Heft 10 (November 2005) zur Liste | home

REACH – und immer der Ärger mit den Chemikalien

Anmerkungen zum Spannungsfeld zwischen Zivilisationskrankheiten, Tierethik, Konsum und der Last mit der Beweisführung

Auch für den mündigsten Bürger ist es praktisch unmöglich, sich aller denkbaren Beeinträchtigung der gewohnten Lebensweise zu vergegenwärtigen. Ein Bereich, der sich für unerwartete und ungewünschte Geschehnisse verantwortlich zeichnen könnte, ist jener der Alltagschemikalien.

Manche dieser Stoffe schaffen es bis zu Schlagzeilen in der Tagespresse, wie Bisphenol A, Medroxy-Progesteron-Azetat, Nitrofen oder Tributylzinn. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Praktisch alle Konsumartikel, seien es elektronische Geräte, Textilien, Mobiliar, Kinderspielzeug und selbstverständlich Kosmetika oder Hygieneartikel sind bei konventioneller Produktion mit Chemikalien überfrachtet.

Umwelt- und Verbraucherverbände ergänzen und prüfen die politischen Maßnahmen, die dem Schutz der Konsumenten dienen sollen, ob ihrer soliden Basis, die, wegen der politischen Diplomatie, nicht immer nur zum Wohle des Verbrauchers sind. Aber jeder Bürger hat ein Recht auf die Verlässlichkeit seiner Umwelt.

Das Weißbuch

Vor dem Hintergrund dieser Verlässlichkeit, wurde im Jahre 2001 das „Weißbuch – Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik“ von der Europäischen Kommission vorgelegt. Darin ist ein System für die Überwachung von Chemikalien – das „REACH“-System *) – vorgestellt, welches seit Oktober 2003 als Entwurf für ein Regelwerk zu einem neuen Chemikalienrecht vorliegt.

Bisher waren in Deutschland die Prüfungen und Auflagen für allgemeine Industriechemikalien durch das Chemikaliengesetz vom 1. Januar 1982 geregelt. Für Substanzen, die vor dem Inkrafttreten des Chemikaliengesetzes zur industriellen Produktion gemeldet wurden, die so genannten „chemischen Altstoffe“, waren keine Prüfungen vorgeschrieben. Definitionsgemäß sind chemische Altstoffe jene, die im September 1981 erklärtermaßen bereits auf dem Markt waren. Alle die danach gemeldet wurden sind „neue Stoffe“, die einer systematischen Prüfung unterliegen.

Nachdem erkannt wurde, dass etwa 70 Prozent der neu angemeldeten Stoffe der systematischen Prüfung nicht standhalten, das heißt als gefährlich ermittelt und damit nicht oder nur in beschränktem Maße zugelassen werden konnten, war auch Handlungsbedarf bei den Altstoffen angesagt, denen keine Prüfungen auferlegt waren.

Der überwiegende Anteil der Chemikalien, die ins Alltagsgeschehen der Bürger greifen, sind Altstoffe: 4000 Einzelsubstanzen und Mischungen die gegenwärtig vermarktet werden sind neue Stoffe, denen 100 106 Altstoffe gegenüber stehen, die, hinsichtlich der menschlichen Gesundheit und der Umwelt, nicht korrekt bewertet sind.

Der Interessenkonflikt

Am 16. November wird das Europäische Parlament in erster Lesung über REACH, das künftig die Registrierung, Bewertung und Zulassung von chemischen Stoffen regeln soll, entscheiden. Hochkonjunktur für Lobbyarbeit.

Zum ersten wird mit dem neuen Regelwerk die Beweislast umgekehrt, das heißt, die Hersteller sollen nun die Unbedenklichkeit ihrer Chemikalien beweisen. Ein Kostenfaktor, der bisher, sofern der Verdacht aufkam, dass eine Substanz nicht unbedenklich sein könnte, von Staat (Umwelt- und Verbraucherverbände) und Behörde getragen wurde. Um die Kosten für die Hersteller zu senken sollen beispielsweise bestimmte Stoffgruppen nur dann vollständig untersucht werden, wenn ein Verdacht auf eine Gesundheitsgefährdung vorliegt.

Zum zweiten, sieht der Gesetzesentwurf sowieso nur 30 000 Altstoffe für die systematische Prüfung vor. Die Verbraucherverbände sehen darin keine Gleichstellung von alten und neuen Chemikalien und damit die Verwischung des Vorsorgeprinzips. Eine Verwischung auch aus dem Grunde, weil die Prüfergebnisse nicht uneingeschränkt öffentlich zugänglich werden sollen. Schon heute ist bekannt, dass von den wenigen Chemikalien, die aber weltweit in größter Menge produziert wurden und werden, etliche als potentiell mutagen wirkend (genotoxisch) identifiziert sind. Sowohl im Tier- (in vivo) als auch im Zellkulturmodell (in vitro) zeigte sich dies für Acrylnitril, Butadien, Ethylendichlorid, Ethylenoxid, Formaldehyd, Propylenoxid und Vinylchlorid.

Zum dritten sind mit REACH Vorschriften verbunden, die die ohnehin wieder ansteigende Anzahl an Tierversuchen durch die Gentechnik, weiter hochschnellen lässt. Ein grausames Unterfangen, das weder der ethischen Argumentation noch der wissenschaftlichen Erkenntnislage stand hält. Denn das Tiermodell, das haben viele Beispiele gezeigt, ist kein gutes Modell für den Menschen, vor allem dann, wenn es um langfristige, systemische oder individuelle Wirkungen geht.

In diesem Interessenkonflikt stehen sich nun seltsam anmutende Koalitionen gegenüber. Interessengruppen, die den Entwurf seit seiner Vorlage zu „optimieren“ versuchten. Der Verbraucherschutz fordert ein maximales Maß an Sicherheit für den Menschen und hat damit die alten Tierversuchsprotagonisten auf ihre Seite und die Verbände des Tierschutzes sehen im in vitro Modell die zuverlässigere und zudem kostengünstigere Variante für die Chemikalienprüfung und sitzen damit im Boot der Unternehmer, welche vor allem Kosten sparen wollen.

Die Lösung

Seit der Mitte des 20sten Jahrhunderts breiteten sich Erkrankungen aus, wie es zuvor nicht in dem Maße beobachtbar war. Einige davon gelten heute als Zivilisationskrankheiten, weil sie sich vorwiegend in den Industrienationen verbreitet haben. Am auffälligsten waren und sind chronische Erkrankungen aber auch Störungen des Hormonhaushaltes und der Chromosomen.

Nun muss nicht alles auf Chemikalien zurückzuführen sein – so genau weiß das keiner – aber außer Betracht stehen sie nicht.

Die Umkehrung der Beweislast mag als revolutionär bewertet werden, denn warum sollten die Vertreter der Gesundheitsvorsorge den Schädlichkeitsnachweis erbringen und nicht der Hersteller den Unbedenklichkeitsnachweis. Aber der Nachweis im Sinne eines Beweises kann nur am menschlichen Individuum erbracht werden.

So wäre es nur sinnvoll, das teure in vivo Modell durch das kostengünstigere in vitro Modell zu ersetzen. Die Zellkultur kann aus menschlichem Gewebe gezüchtet werden, die dann genau die Eigenschaften hat, wie jener Organismus, der geschützt werden soll.

Doch die Protagonisten der Tierversuche sind hartnäckig. Obwohl es beispielsweise für die genetische Toxikologie zu praktisch allen Tierversuchen ein Pendant als Zellkultur gibt, scheint sich gegenwärtig der Tierversuch in den behördlichen Vorschriften zu etablieren. Dabei sind gerade die metabolische Aktivierung in den Zellen und die DNS-Reparaturmechanismen in deren Kern, in dem die Chromosomen liegen, für Mensch und Tier sehr unterschiedlich, weil jene komplexen Systeme von der DNS der Individuen kontrolliert werden.

Würde den Produzenten der Chemikalien bezüglich der Prüfvorschriften die kostengünstigere Variante angeboten werden, so müssten sie hinsichtlich der systematischen Prüfung ihrer Stoffe dem Verbraucherschutz entgegen kommen. Und das Gezerre um die günstigste Ausgangsposition der Lobbyisten könnte im Sinne des Artikel 20a des Grundgesetzes beendet werden: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen ...“.


Dr. Heinz Wohlgemuth
Berliner Umweltagentur e.V.


Anmerkungen

*) REACH = Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien

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Quellenangaben

- Das Ringen um ein neues Chemikalienrecht. Ohne Tierversuche wird „Reach“ keine zuverlässigen toxikologischen Daten liefern, FAZ, 19. Oktober 2005, Seite N2

- Genetic toxicology, Chapter 17 in: Hayes, Principles and Methods of Toxicology, 4. Ed., Taylor & Francis, Philadelphia 2001, Seite 819-852

- REACH. Magazin für moderne Chemie, BMU, Juli 2004

- REACH. Besser vorsorgen, BUND Magazin, 1/2004, Seite 15

- The proportions of mutagens among chemicals in commerce, Regulary Toxicology and Pharmacology 32, 2000, Seite 219-225

- WEISSBUCH, Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik, Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Brüssel, den 27.2.2001


     Die Redaktion Umwelt, am 14. November 2005 – ugii Homepages –