Umweltpanorama Heft 3 (März 2004) zur Liste | home

Allergie – eine Domäne der Aristokraten?

Die historische Diskussion um die Ursache des Heuschnupfens

Seit Generationen von Menschen ist sie bekannt und heute eine Geißel der Zivilisation – wie es manchmal ausgedrückt wird. Für jeden ein bekannter Begriff, aber wenn man gefragt würde: „Was ist Allergie?“, was wäre die Antwort.

Eine psychisch bedingte Erkrankung, wie es sinngemäß Johann Wolfgang von Goethe oder Heinrich Heine bemerkten. Oder einfach nur eine Marotte, wie sie manchen Sonderlingen eigen ist (im Sinne von Immanuel Kant). Damals wurden saisonbedingte und nachhaltige Erkrankungen mit „Idiosynkrasie“ umschrieben. Ein Begriff, den Ärzte als Lückenbüßer für nicht erklärbare Krankheiten einsetzten.

Über das ungewöhnliche dieser Erscheinung, mag sie Idiosynkrasie, Allergie oder Atopie heißen, zerbrachen sich schon viele Menschen den Kopf – und das nicht erst seit heute.

Die Prototypen von saisonbedingten Erkrankungen, und von der Medizingeschichtsschreibung am gründlichsten studiert, waren jene, die mit katarrhalischen Symptomen, also mit Niesen, Schnupfen und Augentränen einhergingen. Heute würde man diese Krankheiten mit Pollenallergie oder Pollinosis bezeichnen; das war aber nicht immer so.

Rosenfieber

Die erste plausible Überlieferung zu diesem Krankheitsbild kommt aus dem Islam mit der Bezeichnung „Rosenschnupfen“. In einem Buch von C. Elgood aus dem Jahre 1952 über die persischen Wissenschaften wird ein gewisser Rhazes (Abû Bakr Muhammed Ibn Zakarîya Al-Râzî), der wahrscheinlich um das Jahr 900 nach Christus gelebt hatte, erwähnt. Er hatte eine Entzündung der Nasenschleimhaut beschrieben, die regelmäßig im Frühjahr zur Zeit der Rosenblüte aufgetreten sein soll.

Im Orient waren Rosenzüchtungen schon lange bekannt. In künstlerischen Motiven Asiens um 3000 vor Christus war die Rose erstmals bildlich festgehalten. Wegen ihrer farbenprächtigen, stark duftenden und großen Blüten hatte sie wohl Kreuzfahrer bewogen, diese nach Europa einzuführen. Als die römische Zivilisation mit ihrem materiellem Wohlstand ihren Höhepunkt erreichte, galten Rosen als eines der höchsten Luxusgüter, wovon Cleopatra aber auch Kaiser Nero ausschweifend Gebrauch machten (soweit die Überlieferungen). Die heutigen Rosen sind Züchtungen bzw. Kreuzungen der Chinarose (Damaszenerrose), welche selbst nicht winterfest ist. Die erste winterfeste Sorte ist die Apothekerrose (rosa gallica officinalis) aus der Türkei.

Ab dem 16. Jahrhundert wurde auch in Europa ein „Rosenfieber“ beschrieben, das von der Jahreszeit abhängig war und die heute bekannte, typisch allergische Symptomatik zeigte.

Von Paracelsus (1493-1541) wissen wir, dass der Duft dieser königlichen Blume, anders als bei üblichem Giftstoffen, eine nachhaltige Wirkung hatte. Der portugiesische Arzt Amatus Lusitanus (1511-1568) berichtete 1556 über dieses geheimnisvolle Rosenfieber bei einem Menschen, der sich zur Zeit der Rosenblüte in seine Wohnung einschließen musste. Dieses Leiden war offenbar sehr schwerwiegend, denn mit einfachen oder leichten Beschwerden traute man sich damals nicht zum Arzt. Weiterhin fügte er hinzu, dass man sich davor hüten sollte, derart empfindlichen Personen rosenhaltige Arzneien zu verschreiben. Rosenhaltige Arzneien waren damals wegen ihres königlichen Charakters üblich. Ebenfalls 1556 wurde in dem Werk Hieroglyphica von dem italienischen Humanisten Johannes Pierius Valerianus (1475-1558) das Rosenfieber erwähnt. Er betonte darin, dass es sehr viele Menschen gäbe, die den Rosenduft nicht ertragen und besonders Empfindliche sogar vom Tod heimgesucht werden können. Aus seinem Werk geht dazu hervor, dass eine im Kriege ausgezeichnete, keineswegs in seiner Widerstandskraft geschwächte, ja sogar besonders männliche Persönlichkeit, von diesem Tod ereilt wurde.

Ähnliche, in ihrer Darstellung subjektive Mitteilungen, die die Gefährlichkeit der Rosendüfte für Leib und Leben beschrieben, hielten bis ins 18. Jahrhundert an. Zudem häuften sich auch Berichte, die Lilien-, Veilchen- und andere Blütendüfte, die als verursachende Agenzien das Rosenfieber bewirken.

Heufieber

Im Jahre 1779 begnügte sich Johann Andreas Murray (1740-1791) nicht mehr mit der Aufzählung der Krankheitserscheinungen. In einer Zeit, in der sich ein allgemeiner Wandel der ärztlichen Blickweise vollzog: von der subjektiven Darstellung zur analytischen Deutung der Erkrankungen. Murrays Ansicht nach lag es nun nicht mehr an den Düften der Blumen, sondern an der besonderen Konstitution der überempfindlichen Patienten. Er postulierte also eine Verlagerung des ursächlichen Übels von der äußeren Noxe zur endogenen Disposition (also vom Duftstoff als Schadstoff zur individuellen Veranlagung). Diese neue Betrachtung veranlasste viele, vorwiegend englische Autoren, zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Rosenfieber sozusagen neu zu entdecken.

Obwohl John Bostock (1773-1846) auch keine klare Vorstellung über das Krankheitsbild dieses Leidens vermittelte, leitete er mit seinem Vortrag vor der Londoner „Medico-Chirurgical Society“ am 16. März 1819 gleichsam eine neue Periode zur Beschreibung dieser Erkrankung ein. Diese nunmehr 180 Jahre alte, klassische Schilderung gilt bisweilen als die eigentliche erste Beschreibung dieses Krankheitsbildes. Bostock selbst war seit dem achten Lebensjahr von dieser Erkrankung betroffen. Er beschrieb die im Laufe der Jahre zunehmende Schwere, die ihm jeweils im Juni widerfuhr, bis hin zu den Beschwerden der Lungen. In seiner zweiten Veröffentlichung aus dem Jahre 1828 stellte er vier Hauptsymptomgruppen dar, die Augen-, Nasen-, Hals- und Lungenerscheinungen, und benannte seine Erkrankung als „summer catarrh“. Ähnliche Beschreibungen lieferten aber auch John Macculloch im selben Jahr und William Gordon ein Jahr darauf. Jene bezeichneten diese Erkrankung mit „hay-fever“ bzw. „Grasasthma“.

Interessanterweise setzte sich der Begriff „hay-fever“ (Heufieber) in der medizinischen Literatur allmählich durch, obwohl diese Bezeichnung aus den Volksmunde stammte. Wie Bostock erwähnte, werden in Laienkreisen diese saisonabhängigen Erscheinungen, eben das Heufieber, mit dem Duft des frisch gemähten Heus in Verbindung gebracht.

Pollenkatarrh

William Gordon war es, der von bestimmten Grasarten als Verursacher der Erkrankung schrieb. Dieser Blick auf das Wesentliche wurde insbesondere durch die „pedantische deutsche Gelehrsamkeit“ blockiert, so dass erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die richtige Beobachtung dieses praktizierenden Arztes bestätigt wurde. Dass es sich bei diesen Erkrankungen um die Pollen der Gräser handeln müsse, erkannte erst John Elliotson (1774-1868) im Jahre 1831, der von Gordon auf das Grasasthma aufmerksam gemacht worden war. Diese Erkenntnis selektierte Elliotson, ein klinischer Arzt, aus den Schilderungen seiner Patienten. Er war es auch, der auf eine vererbbare Komponente hinwies und Hauterscheinungen im Zusammenhang mit den Gräsern beschrieb, die erst 1887 mit „Dermatitis venenata“ einen Namen erhielten. Der entscheidende Punkt seiner analytischen Arbeit aber fiel mit dem Stichwort Pollen. Aber wie schon gesagt, gab es viele Zweifler und so blieben die Arbeiten Elliotson ungewürdigt.

Anbetrachts der zunehmend wissenschaftlichen Beschreibungen wurden eine Reihe von Theorien aufgestellt, die das unerklärliche Krankheitsbild erhellen sollten, wie unter anderem die Aristokratentheorie, der auch Philipp Phoebus (1804-1880) anhing. Phoebus legte im Jahre 1862 als erster Deutscher eine weit beachtete Monographie vor, die sich dem „Frühsommerkatarrh“, wie er das Heufieber nannte, widmete. Ein anderer Autor, der dieser Theorie anhing, der New Yorker Neurologe George Miller Beard (1839-1883), sah in dem Heufieber eine neurotische Erkrankung (Neurasthenie). Er beschrieb in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1876, dass für „die Vermehrung“ der Heufieberanfälle die „vielfältigen Reize der modernen Zivilisation“ verantwortlich seien und bediente sich Argumenten wie der Zunahme des Verkehrs, unruhiger Lebensweise und des Fehlens regelmäßiger Erholungsmöglichkeiten. Er maß schon damals dem Hausstaub eine große Bedeutung zu und sah die vorwiegende Klientel dieser Krankheit in „gehobeneren Kreisen“, mit ihrer „erhöhten Empfindlichkeit des Nervensystems“.

Beard verwies beispielsweise auf die merkwürdige „Junikrankheit“ die König Wilhelm IV. von England (1765-1837) schwer zu schaffen machte. Und Phoebus erwähnte einen Professor, der sofort eine Verschlimmerung seines Heuschnupfens erlitt, sobald er in der Heufieberzeit sein aufgedunsenes Gesicht im Spiegel erblickte.

Mit der Bezeichnung „Pollenkatarrh“ bzw. „Pollenasthma“ spezifizierte der in Manchester lebende Homöopath Charles Harrison Blackley (1820-1900) die Pollen als die eigentlichen Auslöser des Heufiebers und begrub damit alle Zweifel, im Sinne von Elliotson, um die Ursache des Heufiebers. Blackely, auch er war Allergiker, schrieb im Jahre 1873, dass die frisch gepflückten Gräser in seinem Arbeitszimmer für seinen Heuschnupfen und sein Asthma verantwortlich wären. Im Selbstversuch träufelte er sich die Pollen in die Augen, atmete sie ein und verrieb sie auf seiner Haut, was zu den typischen Erscheinungen allergischer Reaktionen führte: Anschwellen der Augenlider und Tränen, Atemnot sowie Quaddelbildung an den betroffenen Hautarealen. Blackley war sich auch bewusst, dass die Pollen nicht die eigentliche Ursache seines Heufiebers war, sondern nur die Auslöser. Die Ursache schrieb auch er einer persönlichen Veranlagung zu, da zur Heufieberzeit nur ein geringer Prozentsatz durch diese Blütenteile erkrankten, obwohl jeder diesen Pollen ausgesetzt war.

Pollenallergie

Eine Verfeinerung der Blackleyschen Ausführungen haben wir William Philipps Dunbar (1863-1922), einem Hygieniker in Hamburg, zu verdanken, der im Jahre 1903 nicht die Pollen als ganzes, sondern deren Eiweißstoffe als die eigentlichen Auslöser identifizierte.

Das Tor zum Verständnis des Heufiebers hat letztlich noch Alfred Wolff-Eisner (1877-1948) mit einer Monographie aus dem Jahre 1906 geöffnet, der auch Bezeichnungen wie „Pollenkrankheit“ und „Pollenempfindlichkeit“ verwandte. Wolff-Eisner wandte sich der Frage zu, warum das Polleneiweiß nur bei disponierten Patienten zur Erkrankung führte. Er konnte aus seinen Überlegungen ableiten, dass nur die wiederholte Einverleibung allgemein körperfremder Eiweißstoffe zum Ausbruch der Erkrankung führte und stellte die Verbindung mit den Arbeiten des Wiener Kinderarztes Clemens von Pirquet her, der ebenfalls im Jahre 1906 eine Arbeit unter dem Titel „Allergie“ publizierte. Wolff-Eisner konnte aufzeigen, dass eine individuelle Überempfindlichkeit zu diesen Erkrankungen führt, welche Pirquet im Rahmen von Impfungen als „Allergie“ bezeichnete. Nach Wolff-Eisner war die Manifestation des Heufiebers eine Frage der Aufnahme von körperfremden Eiweißes an sich, das a priori gar nicht toxisch war. Gesunde würden dieses Eiweiß gar nicht erst resorbieren.

Die Auslöser des von nun an zunehmend als Pollenallergie bezeichneten Heufiebers waren jetzt substanziell durchschaut. Die darauf folgenden detaillierten Erkenntnisse betrafen das Immunsystem als das tragende Organ für diese Krankheit und Wolff-Eisners Überlegungen konnten biochemisch nachvollzogen werden. Wegweisend waren die Entdeckung des Immunglobulins E (IgE), der Einfluss der Leukotriene und Zytokine, die Charakterisierung der Untergruppen der T-Zellen und insbesondere die Aufklärung der Immunantwort.

„méthode numerique“

Aber die Diskussion um die eigentliche Krankheitsursache ging weiter und mit den Untersuchungen zum so genannten Ost-West Vergleich, im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts, flammte die „Aristokratentheorie“ wieder auf. Das Ergebnis dieser Untersuchungen bestand darin, dass zu Anfang der 1990er Jahre im westlichen Teil der jetzigen BRD wesentlich mehr Bürger an Allergien litten als im östlichen Teil, also der ehemaligen DDR. Mit der Interpretation dieses Ergebnisses durch Heinz-Erich Wichmann im Jahre 1994 war es dann soweit: Es liegt am Lebensstil. Das heißt, an der Lebensweise der westlichen Wohlstandsgesellschaft. Diese Interpretation wurde mehrfach bestätigt. Wie unter anderen auch Erika von Mutius im Jahre 1996 feststellen musste: Bei Kindern in Leipzig hat sich die Häufigkeit von Heuschnupfen seit 1991 unter dem Einfluss der westlichen Kultur mehr als verdoppelt.

„Die klinische Not ist alarmierend“ hielt Johannes Ring im Jahre 1992 fest und berief sich auf die dramatische Zunahme von Allergien allgemein, die ab den 1960er und 1970er Jahren in mehreren westlichen Ländern nachgewiesen wurde. Und nun auch im Osten.

Die Zunahme des Heufiebers wollten auch schon Mitte des 19. Jahrhundert einige Epidemiologen beobachtet haben. Die in Frankreich aufgenommene „méthode numerique“, die mit exakten wissenschaftlichen Methoden unter Verzicht auf jegliche Spekulation erfassbare Lebenserscheinungen analysieren sollte, war jedoch später in Kritik geraten. Gerade hinsichtlich der Aristokratentheorie waren die Fragebogenaktionen angezweifelt worden, da zum Beispiel Arbeiter und Knechte bisweilen gar nicht in der Lage waren die Vordrucke zu lesen, geschweige denn sie sorgfältig auszufüllen.

Die Fragen bleiben

150 Jahre später, die Fragebögen wurden verständlicher, die Statistiken ausgereifter, zweifelt kaum noch jemand an dem hohen Anteil der Allergiker innerhalb der wohlhabenden Industriegesellschaft. Nur: Viele Fragen blieben offen und der Lebensstil geriet im Sinne der Schulmedizin eher in Vergessenheit.

Vielleicht war das der Grund, warum eine Notiz in Fachblättern der Hirnforschung wenig Aufmerksamkeit in der allergologischen Fachpresse fand. Im Magazin „Der Spiegel“, Heft 12, 1997, war die Notiz gerade mal einen einzigen Satz lang. In der Sache ging es um einen Mann, der morgens von zu Hause losradelte, um Brötchen zu holen. Er kam nicht zurück, sondern war statt dessen tagelang am Rhein entlang gefahren. Über 300 Kilometer weit entfernt tauchte er in einer Bahnhofsmission auf. Er wusste nicht mehr wer er war, im Spiegel starrte ihn ein fremdes Gesicht an und er wusste nichts über seine Herkunft. Auch seine Familie, die ihn über eine Vermisstenanzeige nach fünf Tagen wiederfand, erkannte er nicht mehr. Obwohl er weiterhin schreiben, rechnen und alltägliche Verrichtungen ausführen konnte, begann für ihn gleichsam ein neues Leben. Selbst sein Asthma und seine Allergie hatte er vergessen.

Allergie, als Manifestation im Hirn? Der „innere“ Lebensstil? Oder doch ein „äußerer“ Lebensstil, ein Umwelt- oder Umfeldproblem? Oder doch lieber eine Abschiebung des Problems auf das individuelle Erbe, eine Marotte vieler einzelner? Im Sinne der historischen Diskussion um die Ursache des Heuschnupfens ist man nicht wirklich weiter gekommen, denn auf viele Fragen gibt es nach wie vor verschiedene Antworten.


Dr. Heinz Wohlgemuth
Berliner Umweltagentur


     Die Redaktion Umwelt, am 1. März 2004 – ugii Homepages –